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Kindeswohl versus Elternrechte

Auch auf EU-Ebene setzt sich die Wahrung von Elternrechten im Namen des Kindeswohls lediglich fort

von Angelika Petrich-Hornetz

Als einer der klügsten Kommentare zum jüngsten Väterrechts-Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR) (Beschwerdenummer 17080/07), dürfte der von Tissy Bruns im Tagesspiegel gewesen sein, mit dem etwas provokativen Titel Männerrecht darf nicht vor Kindeswohl gehen. Bruns lobt darin zwar, dass deutsche Gerichte Müttern bislang zu leicht recht gegeben hätten, was die europäische Gerichtsbarkeit damit nicht zum ersten Mal zurechtgerückt habe, kritisiert aber gleichzeitig, dass der biologischen Vaterschaft ein ungerechtfertigt hoher Stellenwert eingeräumt werde, der damit u.a. die soziale Vaterschaft sogar herabgesetzt habe - und noch wichtiger als alle Rechte von Vätern sollten doch bitte die Kinder selbst sein.

Unter welchen Familienkonflikten Kinder im Trennungs- oder Scheidungsfall leiden, soll von den Gerichten u.a. auch durch das Unterhaltsrecht sowie durch das Umgangsrecht geklärt werden. Doch immer noch geht es bei allen Elternstreitigkeiten vor allem um die Rechte von Müttern oder Vätern, auch wenn viel vom Kindeswohl gesprochen wird. Aktuell kann man beobachten, wie sich Gerichte bemühen, Väterrechte zu stärken, was unvermeidbar mit der Schwächung von Mütterechten einhergeht. Es ist bestimmt gerechter, diese anzugleichen, also beiden Elternteilen die gleichen Rechte einzuräumen, das aber auch nur, wenn diese auch mit den gleichen Pflichten und derselben Verantwortung einhergehen, damit auch das Kind zu seinem Recht kommt. Doch genau da hakt es, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene. Einen mulmigen Beigeschmack hinterlässt der sich bei solchen Urteilen wiederholende Eindruck, dass bei all den Verhandlungen und Urteilen das Recht des Kindes regelmäßig kein Thema ist.

Nach wie vor steht in der Mitte streitender Eltern-Parteien ein Kind relativ allein da. Würde es tatsächlich um das Kindeswohl gehen, müssten Kinder verstärkt von Richtern befragt werden, müssten ihnen dazu möglicherweise auch Rechtsanwälte an die Seite gestellt werden, die sich im Paragraphen-Dschungel auskennen und allein die Interessen des Kindes vertreten, was bedeutet, für ihre jungen Mandanten das für sie beste Ergebnis herauszuholen. In letzter Konsequenz sollte sogar die Möglichkeit gegeben werden, dass sich ein Kind tatsächlich von seinen Eltern scheiden lassen kann, z.B. wenn es misshandelt wird. Doch das alles würde sehr viel Geld kosten. Und das ist wahrscheinlich der eigentliche Grund, warum Kindesrecht bislang nicht im Grundgesetz verankert worden sind, denn dann wäre ihre teure Verteidigung in der Verfassung festgeschrieben.

Doch ein Kind klagt nicht vor Gericht und klagt überhaupt selten. Über sein Wohl und Weh entscheiden immer Erwachsene, die das Kindeswohl mehr oder weniger gut einschätzen können. Ob Eltern oder andere Betreuungspersonen, das Kind wird vertreten und die Einschätzung der verantwortlichen Erwachsenen wird zur Meinung des Kindes erklärt. Das kann im besten Fall tatsächlich gut funktionieren, so dass die Verantwortlichen fast wie Anwälte des Kindes fungieren oder aber es wird wieder nur fremdbetimmt und bevormundet. Es gibt richterliche Befragungen, doch vorgeschrieben sind diese erst ab einem Alter von 14 Jahren. Und ob die Zeit in jedem Fall ausreicht, um die Wünsche des Kindes wirklich berücksichtigen zu können, bleibt oft fraglich. Wenn gerichtlich ein Kontakt zu dem einen oder anderen Elternteil für sinnvoll gehalten wird oder nicht, muss dieser Beschluss befolgt werden, auch von dem Kind, das seinen Vater oder seine Mutter vielleicht doch sehen möchte oder erst einmal nicht mehr sehen will - was sich übrigens auch wieder ändern kann, das liegt in der Natur eines sich entwickelnden Kindes.

Kinder werden im Selbstverständnis vieler Erwachsener immer noch als Eigentum ihrer Eltern verstanden. Kaum jemand kam indes bisher auf den Gedanken, dass Kinder etwa einen ähnlichen Besitzanspruch an ihren Eltern hätten. Doch die erstgradige Verwandtschaft zwischen Kindern und Eltern ist gesetzlich verankert, beidseitig und unauflösbar. Sie dauert damit lebenslänglich - ganz anders als bei Ehen. Manche Eltern bekommen diese Tatsache erst mit, wenn sie für ihre Kinder Unterhalt zahlen sollen. Umgekehrt genauso: In der alternden Gesellschaft Deutschlands müssen immer mehr Kinder Unterhalt für ihre Eltern zahlen, auch wenn ein paar davon, glücklicherweise allen Unkenrufen zum Trotz immer noch in der Minderheit, nicht einmal dem Mindest-Standard ihrer Rolle gerecht werden. Es gibt unzählige Urteile, die das Kindeswohl gerade diesbezüglich missachten, obwohl das - inzwischen erwachsen gewordene - Kind damit im Nachhinein noch einmal bestraft und lebenslänglich zum Kindsein unsäglicher Eltern verdonnert wird - ebenfalls per Gesetz. Gerade dieser Aspekt, dass die Minderjährigen von heute eines Tages so oder so die Versorger ihrer Eltern sein werden, spielte bei der Klärung des Kindeswohls bisher überhaupt keine Rolle.

Der Bundesgerichthof verturteilte im September (AZ: XII ZR 148/09) einen 48-Jährigen zum Elternunterhalt für seine Mutter, zu der dieser seit mehr als dreißig Jahren so gut wie gar keinen Kontakt mehr hatte. Der Grund: Bereits in der Kindheit litt die Mutter unter einer schizophrenen Psychose, inklusive Antriebsschwäche und Wahnideen. Der Sohn wurde in Folge der Krankheit von der Mutter vernachlässigt. Eine Erkrankung wie die seiner Mutter, so beschied der Bundesgerichtshof dem Sohn, sei kein schuldhaftes Fehlverhalten (§1611 BGB), das als eine Voraussetzung für den Anspruchsverlust auf Elternunterhalt gegeben sein muss. Dass eine Krankheit nicht als schuldhaftes Verhalten gewertet werden kann, ist selbstverständlich richtig. Doch für das betroffene Kind bleiben das Erlebte und das Egebnis niederschmetternd. Was ist nun genau das Vergehen des Sohnes, der gelitten hat, der - ob schuldhaft oder nicht - nicht versorgt wurde und nun zur familiären Solidarität, die ihm selbst nicht zuteil wurde, herangezogen wird? Selbst eine unbillige Härte konnte der Gerichtshof in dem Fall nicht feststellen, sondern pochte auf die gesetzlich verankerte familiäre Solidarität, die damit in der Umsetzung lediglich einseitig ausfällt.

Die Grenzen für eine Versagung des Elternunterhalts sind eng gesetzt. Ein schuldhaftes Verhalten stellt zum Beispiel eine grobe Vernachlässigung der Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind dar, das Jahrzehnte später für Elternunterhalt in Anspruch genommen werden soll oder andere Verfehlungen, zum Beispiel Drogensucht, aber auch nur dann, wenn eine Therapieverweigerung nachweisbar ist. Oder ein anderes Beispiel: Die Mutter/der Vater verlassen das Kind, ziehen weit weg und kümmern sich fortan nicht. Vermehrt dürfte es in den nächsten Jahren in Gerichtsprozessen auch um den Elternunterhalt alkoholabhängiger Eltern gehen, da auch Alkoholsucht als Krankheit gilt. Die Folgen von psychischen oder Sucht-Erkrankungen muss das Kind jedoch erst einmal allein tragen, weil auch die Darlegungs- und die Beweislast allein bei dem Kind liegt. In dem BGH-Urteil vom September 2010 wurde dem Sohn sogar zur Last gelegt, den Umgang mit ihm abgelehnt zu haben, als die Mutter diesen im Jahr 1975 per Antrag auf Regelung der Umgangskontakte ihrerseits begehrte. Da war der Sohn gerade einmal 14 Jahre alt. Es ist erstaunlich, einem Teenager vorzuhalten, keinen Kontakt mit seinem psychisch kranken Elternteil wieder aufzunehmen zu wollen bzw. ihm dieses Verhalten später tatsächlich als Begründung für die Eltern-Unterhaltspflicht zu geben. Damit wird Kindern auch weiterhin ein Schicksal auferlegt, das lebenslänglich mit den Eltern geteilt werden muss, auch wenn das Kind selbst nichts zu deren Leid beigetragen hatte - außer dem Umstand, anwesend gewesen zu sein.

Kinderwagen, IllustrationWährend man also, grob vereinfacht, in Deutschland Mütterrecht verteidigt und man sich auf Europa-Ebene immer mehr für Väterrechte einsetzt, verkümmert dabei nach wie vor das Kindesrecht - schon das Wort taucht höchst selten in der Öffentlichkeit auf. Ähnlich wie bei einem ganz persönlichen Rosenkrieg zerstrittener Eltern steht damit auch das EU-Kind nunmehr zwischen den Stühlen, dessen Kindeswohl - im Vergleich zum "Kindesrecht" dauernd genannt - von eigenen Vorstellungen offenbar bis auf Weiteres unbehelligt bleibt. Ein Fortschritt ist darin nicht zu erkennen, wenn sich nun auf EU-Ebene schlicht nur fortsetzt, dass vorwiegend immer noch die Rechte und Leiden der jeweiligen Elternteile Gegenstand von Kindeswohl-Urteilen und damit lediglich nicht mehr eine nationale Angelegenheit sind. Somit verharren auch auf EU-Ebene die eigenen Leiden und Wünsche eines Kindes einmal mehr im Dunkeln.


2011-10-01 Angelika Petrich-Hornetz, Wirtschaftswetter
Text: ©Angelika Petrich-Hornetz
Foto Banner: ©Cornelia Schaible
Illu: ap
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