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Inklusion - Außen vor und überall dabei?

Inklusives Filmfestival der Aktion Mensch war ein großer Erfolg

von Anne Siebertz

Ein anderer Blick, eine neue Sichtweise, die Diskussion eines Themas von innen heraus: das unlängst zu Ende gegangene Filmfestival „überall dabei“ der Aktion Mensch hatte es in sich: mit sechs Kinofilmen und Mitmachaktionen präsentierte es eine Welt, deren Akteure aufgrund einer oder mehrerer Behinderungen oft am Rande der Gesellschaft stehen. Ziel war vor allem eines: Aufmerksamkeit für ein inklusives Miteinander zu schaffen, das allzu oft an den großen und kleinen Barrieren des Alltags scheitert.

Was gibt es Wichtigeres als sich die Schuhe zu binden? Anscheinend nichts für eine bunt gemischte Gruppe von Menschen mit verschiedenen Behinderungen. Diese leben in einer schwedischen Wohngruppe zusammen und achten perfekt auf die Kommandos ihrer Betreuerin. Und seit acht Jahren studiert diese mit ihnen an übergroßen Modellschuhen genau diese Kunst. Mit mäßigem Erfolg, denn Spaß macht das Schuhebinden ihren Schützlingen nicht. Mehr Spaß haben sie hingegen mit dem Betreuer Alex, einem mittellosen Schauspieler, dessen einzige Chance auf einen Job es ist, sich in der Wohngruppe als Assistent zu verdingen. Unvoreingenommen und unerfahren im Umgang mit Menschen mit Behinderungen wie er ist, schafft er es trotz zahlreicher Rügen und Verwarnungen von Vorgesetzten und Eltern, dass die Gruppe bei einer Talentshow auftreten kann.
So in etwa spielte sich die von Lena Koppel filmisch inszenierte Geschichte ab, die auf der – wahren - Erfolgsstory des schwedischen Glada Hudik Theaters basierte.

Mit dabei auf der Bühne des Lebens

Ob die große oder kleine Bühne des Lebens, ob Kunst und Kultur oder Alltagswelten - das inklusive Filmfestival der „Aktion Mensch“ war „überall dabei“, wenn es um Behinderungen der verschiedensten Art ging. In insgesamt 40 Städten wurde es gezeigt, darunter auch kleineren Orte wie Aalen, Biberach oder Paderborn. Für jeweils fünf bis sechs Tage kamen dort Menschen mit und ohne Behinderung zusammen, schauten die Filme und diskutierten miteinander. Ganz in diesem Sinne wollte das Festival offen für alle sein, „die eine inklusive, demokratische und soziale Gesellschaft wollen“.
Genau das haben die Initiatoren der Aktion Mensch auch geschafft, denn die sechs gezeigten Filme betrachten unter fiktiven und dokumentarischen Blickwinkeln die Themen Gehörlosigkeit, Blindheit, Down-Syndrom. Und auch den Gefühle wurde großer Raum gegeben: der Film „Rachels Weg“ zeichnet in dokumentarischer Weise das Leben einer Sexarbeiterin nach, deren Kunden Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen sind.

Neu für unsere deutschen und synchronisationsverwöhnten Augen und Ohren waren die inklusiven Fassungen, in denen alle Filme präsentiert wurden. Was für Kinozuschauer in Skandinavien längst gang und gäbe ist, nämlich die Einblendung deutscher Untertitel trotz deutsch synchronisierter Dialoge, war für viele der Besucher neu. Um auch Menschen mit Hörschädigungen teilhaben zu lassen, waren die Untertitel-Dialoge leicht verkürzt oder vereinfacht. Zudem standen für sie ausleihbare Geräte mit einer speziell verstärkten Tonspur zur Verfügung. Gebärden- und Schriftdolmetscher begleiteten die Begrüßungs- und Diskussionsrunden.

Auch Blinde oder Menschen mit starken Sehbeeinträchtigungen waren gern gesehenen Gäste in den Filmsälen: Alle Filme waren mit Audiodeskription versehen, einer akustischen Beschreibung des Geschehens auf der Leinwand. Auf einer separaten Tonspur wird der Text dabei in die Dialog- und Musikpausen eingesprochen. Die Textinformationen sind so verdichtet, dass blinde Menschen allein anhand der akustischen Informationen das komplette – und mitunter komplexe – Filmgeschehen verfolgen können Um die Beschreibungen hören zu können, konnten sich Interessierte einen Kopfhörer ausleihen.

Audiodeskription bietet akustischen Mehrwert

Doch auch für Menschen mit gutem Sehvermögen erwies sich das Zuschalten der Audiodeskription besonders beim Film „Mensch 2.0“ als gelungene Ergänzung. In der zu einer 90-minütigen Kinofassung verdichteten zwölfstündigen Dokumentation untersuchen Alexander Kluge und Basil Gelpke in rascher Abfolge komplexe Fragestellungen. Wissenschaftler aus der Biologie, der Physik, der Neurologie und nicht zuletzt aus der Informationstechnik, gepaart mit Philosophen und Soziologen versuchen in den kurzen Filmsequenzen, Antworten auf die allumfassende Frage nach künstlicher Intelligenz, nach dem Altern und nach der Erforschung des Gehirns und der Sinne zu geben. Zwischendurch werden Texttafeln mit philosophischen Äußerungen wie beispielsweise die von Enzensberger: „Wir Menschen haben nicht fünf Sinne, sondern 24“ eingeblendet. Gerade an solchen durchaus denkwürdigen Stellen erweist es sich als hilfreich, die Tafeln nicht nur mitlesen zu müssen, sondern sie zusätzlich akustisch per Kopfhörer erfassen zu können.

„Mensch 2.0“ bot nicht nur einen Abriss über den Stand der Technik auf dem Gebiet der Robotik, sondern darüber hinaus viel Diskussionsstoff in puncto Ethik. Führende Wissenschaftler aus Japan präsentieren stolz ihre technologischen Errungenschaften. Die ersten Gehversuche von Robotern à la R2D2 haben sie längst hinter sich gelassen. Stolz zeigen sie „ihre“ humanoiden Maschinen, die, so scheint es, nicht nur programmiert sind, sondern auch autonom lernfähig.
Auf die Frage, ob er es nicht unheimlich findet, dass sich diese Geschöpfe zum Teil nach ähnlichen Gesetzen entwickeln wie biologische Lebewesen, antwortet Alexander Kluge im Interview mit Astrid Eichstedt*: „Sie sind unsere zukünftigen Cousins. Aber ich sehe darin keine Bedrohung. Wir bedrohen sie nicht, sie bedrohen uns nicht. Irgendwann mal wird es Menschenrechte und Menschenrechtler auch für intelligente Maschinen geben“.

Bis dahin wird es – zum Glück - noch ein weiter Weg sein. In der Zwischenzeit können viele Menschen mit Behinderungen die Errungenschaften der Wissenschaft für eine Verbesserung ihrer Lebensqualität nutzen. Etwa mit elektronischen Beinen, die den Rollstuhl ersetzen oder einem muskelkraftverstärkenden Anzug. Oder mit Hörgeräten oder Cochlea-Implantaten, lernfähigen Arm- oder Beinprothesen, und, und, und. Das Festival hat dazu Anstöße und Anregungen gegeben und die Vision einer inklusiven Welt ins rechte Bild gerückt.


2013-06-03, Anne Siebertz, Wirtschaftswetter
Text: ©Anne Siebertz
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